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Migration und Stabilisierung. Jüdisches Leben in Frankfurt am Main nach 1945

Frankfurt am Main galt vor 1933 als ‚jüdischste Stadt‘ in Deutschland. Nach 1945 entstand wieder eine jüdische Gemeinde. Eine dauerhafte Zukunft jüdischen Lebens war allerdings nur durch stete Zuwanderung möglich. Der Beitrag skizziert die besondere Situation in Frankfurt, wo die US-Armee ihr europäisches Hauptquartier einrichtete, und zeichnet am Frankfurter Beispiel nach, dass die Integration der ‚Displaced Persons‘ zwar institutionell problemlos verlief, im Gemeindeleben aber für längere Zeit Probleme bestehen blieben. Auch spätere Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus Israel seit den 1950er Jahren stabilisierte jüdisches Leben und verkomplizierte es gleichermaßen.

Dem Holocaust entkommen: Jüdische Migrationswege zwischen Polen, der Sowjetunion und Deutschland, 1939–1948

Etwa 230.000 polnische Jüdinnen und Juden überlebten deutsche Besatzung, Krieg und Holocaust im unbesetzten Landesinneren der Sowjetunion. Der Beitrag folgt dem Weg der Flüchtlinge und in sowjetische Arbeitslager Verschleppten auf der Grundlage zahlreicher Egodokumente. Wenngleich das Überleben beider Gruppen in der Fremde zu keiner Zeit garantiert war, erwies sich in der Rückschau ihr Aufenthalt in der Sowjetunion als lebensrettend – eine Tatsache, die lange Zeit nur wenig Beachtung in Öffentlichkeit und Wissenschaft fand. Der Beitrag endet mit einer Darstellung des langen Wegs aus dem Exil zurück nach Polen und weiter in die Lager für Displaced Persons im besetzten Nachkriegsdeutschland.

Stillschweigen im religiösen Feld. Der Neustart interreligiöser Beziehungen im Berlin der Nachkriegszeit

1947 gründete der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Siegmund Weltlinger, die Arbeitsgemeinschaft der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Groß-Berlin (AKR). Um die Position der jüdischen Gemeinde zu stärken, rief er darin die Gruppe ‚Nichtchristliche Religionen‘ ins Leben, die Juden, Muslime und Buddhisten umfasste. Der Beitrag schaut zuerst auf ihre Beziehungen in der Zwischenkriegszeit und fragt, was davon übrigblieb und was verschwiegen werden musste, um die Zusammenarbeit gelingen zu lassen.

Editorial 15 (2021), 28

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freundinnen und Freunde von Medaon,

diese aktuelle Ausgabe setzt mit dem Schwerpunkt „Jewish Spaces and the Holocaust“ den Fokus auf die Rezeption des Spatial Turn, der „Wende zum Raum“ in der Holocaustforschung. Initiatorinnen und Mitherausgeberinnen sind Alexandra Klei und Annika Wienert.

Die Beiträge im Schwerpunkt befassen sich mit dem Verhältnis jüdischer Räume zum Holocaust. Die Frage danach, was jüdische Räume ausmacht, ist auf vielfältige Weise zu beantworten: sie können religiös, kulturell, gesellschaftlich, familiär oder individuell bestimmt sein; physisch existieren, aber auch in der Imagination verortet sein; sie können öffentlichen oder privaten Charakter haben; ortsgebunden oder beweglich sein. Diese Räume auszulöschen, war auch ein Ziel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.

Die vier Forschungsartikel untersuchen, wie sich jüdische Räume angesichts der Vernichtungspolitik veränderten, behaupten konnten oder verlagerten. Die Beiträge umfassen den Zeitraum von den frühen antijüdischen Verfolgungen bis zu Gegenwartsliteratur. Konkret widmet sich Natasha Gordinsky der Erinnerung an Massenerschießungen in der Ukraine in post-sowjetischer deutschsprachiger Erzählliteratur. Jan Lambertz analysiert den Umgang mit jüdischen Friedhöfen während des NS und in der BRD, Thomas Pekar widmet sich dem jüdischen Exil in Shanghai während des Zweiten Weltkriegs und Volker Benkert und Marc Vance schließlich zeichnet den Weg der Familie Loewy von Frankfurt am Main nach Phoenix, Arizona, nach.

In der Rubrik Quellen stellt Jonas Stier die fotografische Dokumentation der jüdischen Friedhöfe Hamburgs vor, Annika Wienert und Niels Gutschow besprechen den Generalbebauungsplan der Stadt Auschwitz von Hans Stosberg von 1943.

Neben der Schwerpunktsetzung finden sich noch weitere vielfältige Beiträge in dieser Ausgabe: Gerdien Jonker ermöglicht mit ihrem Beitrag Einblicke in die Arbeitsweise der Arbeitsgemeinschaft der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Groß-Berlin und Jakob Görlitz begibt sich auf Spurensuche zu jüdischem Leben in Großenhain.

Die anhaltende Situation der COVID-19 Pandemie wird in dem Beitrag „Überlegungen zur virtuellen Transformation von Gedenkstätten“ von Tobias Ebbrecht-Hartmann aufgegriffen.

In der Reihe „Biografien jüdischer Frauen“ widmet sich Kirsten Heinsohn dem Leben von Eva G. Reichmann. Auch an anderer Stelle steht die Auseinandersetzung mit Biografien im Fokus: Sebastian Elsbach setzt sich mit der Person und dem Weltbild von Ernst Niekisch auseinander und Grażyna Jurewicz appelliert zu mehr Methodenbewusstsein in der biografischen Forschungspraxis in den Jüdischen Studien.

In der Rubrik Bildung stellt Janna Petersen das Projekt Chasak! vom Institut für Neue Soziale Plastik vor und die Reihe Einblendungen richtet in dieser Ausgabe den Blick auf die verschiedenen Arten des Schreibens im Zusammenhang mit deutsch-jüdischer Filmgeschichte.

Abgerundet wird auch diese Ausgabe von Rezensionen zu ganz unterschiedlichen Teilaspekten im Themenfeld jüdischen Lebens in Forschung und Bildung.

Wir bedanken uns bei den Mitherausgeberinnen Alexandra Klei und Annika Wienert für die sehr gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit, für alle Mühen im Publikationsprozess und selbstredend natürlich für das schöne Ergebnis!

Herzlich danken möchten wir auch allen Gutachter*innen für ihre Unterstützung sowie Steffen Schröter von text plus form, Cathleen Bürgelt, Margi Schellenberg, Patricia C. Sutcliffe und Phillip Roth – sie haben das Lektorat bzw. die Übersetzungen übernommen und so wesentlich zum Gelingen der Ausgabe beigetragen.

Die Redaktion von Medaon im Mai 2021.

Going Underground: Burial, Restitution, and Jewish Space in Postwar Germany

Jüdische Friedhöfe waren hinsichtlich ihrer Nutzung und ihrer räumlichen Ausdehnung in der NS-Zeit massiven Veränderungen unterworfen. Die Orte, an denen jüdische Trauer und Totenehrung stattfnden konnte, wurden radikal gestört. Dieser Artikel untersucht zunächst die Umbrüche, die den Friedhöfen im Deutschen Reich während der NS-Zeit widerfuhren. Er wendet sich dann einer Auseinandersetzung im Fulda der Nachkriegszeit zu, wo die JRSO, eine wichtige Organisation zur Rückerstattung jüdischen Vermögens, darum kämpfte, die Unversehrtheit des alten jüdischen Friedhofs der Stadt wiederherzustellen. Die Geschichte solcher Institutionen sowohl in der Nazi-Zeit als auch in den Jahrzehnten nach 1945 wirft die Frage auf, wie wir auf „jüdische Räume“ in Deutschland blicken, ihre Zerstörung und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ihrer Wiederherstellung.