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Editorial 18 (2024), 35
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freundinnen und Freunde von Medaon,
die rein ehrenamtlich tätigen Mitglieder der Redaktion unsrer Zeitschrift sehen sich derzeit besonders großen beruflichen und persönlichen Herausforderungen gegenüber und auch den Autorinnen und Autoren verlangt die dynamische wissenschaftliche und politische Entwicklung viel ab. Wir freuen uns deshalb besonders, Susanna Kunze als neues Redaktionsmitglied in der Fachredaktion Bildung begrüßen zu können.
Die Artikel dieser Ausgabe widmen sich bei aller Unterschiedlichkeit der konkreten Themen einer gemeinsamen Überlegung: Wie gelingt die Begegnung und der Dialog von Personen und Gruppen mit verschiedenen biografischen Erfahrungen. Anya Zhuravel Segal nimmt uns mit ins Berlin der Zwischenkriegszeit unter dem Titel A Red City: Russian Jews and the Soviet Cultural Presence in Weimar Berlin. Helena Lutz geht der Frage anhand der Kurzgeschichten Isaac Bashevis Singers nach und Dani Kranz und Ina Schaum widmen sich der Leerstelle jüdischer Gegenwart.
Kai Schubert und Christian Tietz betrachten die Implikationen des sogenannten Historikerstreits 2.0 auf die antisemitismuskritische Bildung und ein Berliner Bildungsprojekt des Vereins Vajswerk.
Die Reihe zu Biografien jüdischer Frauen setzt Natalie Naimark Goldberg zu Hannah Kaminski fort, weitere Beiträge thematisieren literaturwissenschaftliche Fragestellungen sowie Erfahrungen aus der digitalen Forschung.
Die Rezensionen der Ausgabe eröffnen ein breites Spektrum an Themen. Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre. Wenn Sie Interesse haben, selbst für Medaon zu rezensieren, zögern Sie nicht, sich bei uns zu melden. Wir freuen uns auf Sie und unterstützen Sie gern.
Auch diese Ausgabe wäre nicht ohne die Unterstützung aller GutachterInnen möglich, denen wir herzlich für ihr Engagement danken. Für die gründlichen und zuverlässigen Korrekturen bzw. Übersetzungen danken wir ebenso herzlich Steffen Schröter von text plus form, Cathleen Bürgelt, Markus Schaub und Margret Schellenberg.
Liebe Leserinnen und Leser,
wir trauern um Dr. Nora Goldenbogen, die für die Forschung zur jüdischen Geschichte und für unsere Zeitschrift immer eine prägende und inspirierende Persönlichkeit war und nicht wenige der Redaktionsmitglieder und Beitragenden bei ihren ersten Schritten auf diesem Forschungsfeld begleitet hat.
Ihrem Andenken widmen wir diese Ausgabe.
Die Redaktion von Medaon im Dezember 2024.
A Red City: Russian Jews and the Soviet Cultural Presence in Weimar Berlin
In Folge des Ersten Weltkriegs und den russischen Revolutionen von 1917 wurde Berlin zu einem der führenden Zentren der russischen Emigration. Im Jahr 1922 erweiterten Sowjetrussland und die Weimarer Republik die gegenseitige diplomatische Anerkennung und ebneten so den Weg für eine weitere Migrationswelle. Dieser Artikel legt nahe, dass russisch bzw. sowjetische jüdische Migranten eine Schlüsselrolle beim Ideentransfer zwischen den beiden Ländern in der frühen Zwischenkriegszeit spielten, gleichzeitig aber auch auf der Suche nach einer neuen jüdischen Kultur waren. Der Artikel untersucht den Fall des Künstlers El Lissitzky, der beispielhaft für eine Kohorte russländischer jüdischer Intellektueller steht, die sich in den 1920er Jahren am Ideentransfer zwischen der Sowjetunion und der Weimarer Republik beteiligten, und untersucht die Sozialgeschichte sich überschneidender russisch-jüdischer Migrantenkreise im Weimarer Berlin. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesem Forschungsdesiderat wird zu einem differenzierteren Verständnis des Kulturtransfers zwischen der deutschen, jüdischen und sowjetischen Gesellschaft in der frühen Zwischenkriegszeit führen.
Leerstelle jüdische Gegenwart: Jüdische Studien, Selbstpositionierung und blinde Flecken
Wir hatten eine Replik auf Michael Brenner und Benet Lehmann geplant. Daraus geworden ist eine Reflexion über Judaistik, Jüdische Studien und jüdische Gegenwartsforschung in Post-Shoah-Deutschland. Wir argumentieren, dass die Gegenwart lebender Juden ein wichtiger Forschungsschwerpunkt an sich ist. Während die beiden Artikel und unser Manuskript vor dem 7. Oktober 2023 entstanden, unterstreichen die Reaktionen in Deutschland seitdem das mangelnde Wissen über Juden, Israelis und Israel. Wir kommen zu dem Schluss, dass interdisziplinäre Kooperationen ausgebaut werden müssen, um gesellschaftliche Missstände anzugehen und dazu beizutragen, dass jüdisches Leben in Deutschland resilienter wird.