Editorial Ausgabe 12

Es dauerte nur wenige Monate, bis sich nach dem Kriegsende im Mai 1945 Jüdinnen und Juden in Dresden wieder zu einer Gemeinde zusammenschlossen. Mehrere Jahre vergingen, bis schließlich 1950 eine Synagoge geweiht werden konnte. Aber erst am 26. April 2013 und somit 68 Jahre nach ihrer Gründung führt die Jüdische Gemeinde zu Dresden mit Alexander Nachama wieder einen eigenen Rabbiner ins Amt ein. Die Redaktion von MEDAON freut sich, anlässlich dieses bedeutenden Ereignisses ein Grußwort des Vaters, Rabbiner Dr. Andreas Nachama, zu veröffentlichen.

Historischen Perspektiven auf jüdisches Leben in Sachsen im Besonderen verpflichtet, präsentieren wir anlassbezogen einen Beitrag von Daniel Ristau. Er wirft ein Schlaglicht auf die Übernahme des Dresdner Oberrabbinats durch Wolf Landau im Jahr 1854/55 und dokumentiert historische Zeugnisse zu diesem in der Forschung wenig beachteten Vorgang.

Mit der aktuellen Ausgabe von MEDAON starten wir die neue, in der Rubrik Miszelle platzierte Reihe Relektüre. Künftig werden vor allem jüngere WissenschaftlerInnen regelmäßig mögliche neue Zugänge zu solchen längst publizierten wissenschaftlichen Texten öffnen, denen als „Klassiker“ bereits kanonischer Rang zukommt und die nicht selten überinterpretiert wurden und werden. Die neu gelesenen Werke sollen auch durch die Brille ihrer Rezeptionsgeschichte betrachtet werden, die es gleichwohl nicht nachzuerzählen gilt. Vielmehr ist zu prüfen, welche ausgewählten Aspekte und Argumentationsstränge überdauernde Relevanz bekamen, welche Ansätze weiterentwickelt wurden, aber auch, welche Impulse in Vergessenheit gerieten beziehungsweise nie aufgenommen wurden. Diese neuen Lesarten sollen schließlich der aktuellen Bedeutung der Texte und ihrer spezifischen Gehalte nachspüren. Tobias Ebbrecht eröffnet die Reihe mit Raul Hilbergs Die Vernichtung der europäischen Juden.

Die Ausgabe umfasst wie gewohnt eine Reihe von Rezensionen aktueller wissenschaftlicher Publikationen und wäre ohne die Unterstützung von Irina Suttner sowie allen GutachterInnen nicht zustande gekommen. Die Korrektur besorgten Cathleen Bürgelt, Nicola Watson, Phillip Roth und Marcus Schaub sowie Gunther Gebhard und Steffen Schröter von text plus form – die Redaktion dankt ihnen allen herzlich!

Die Redaktion von MEDAON im April 2013.

Rabbiner Andreas Nachama

Tradition in der Moderne. Rabbiner Alexander Nachama in Dresden – Ein väterlicher Zwischenruf

Als der legendäre Rabbiner und Seelsorger Leo Baeck, der zu jeder Zeit vor seiner Deportation hätte emigrieren können, aber bewusst und aufrecht mit seiner Gemeinde in Deutschland verblieben und schließlich nach Theresienstadt deportiert worden war, nach seiner Befreiung nach der Zukunft befragt wurde, stellte er nüchtern fest: „Die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für allemal vorbei.“ Ich würde heute anders gewichten: Es gibt wieder ein Judentum in Deutschland, aber an den Glanz des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kann es bisher nicht anschließen. Der Talmud vergleicht das jüdische Volk mit dem Mond. Es gibt Zeiten, wo das Licht zunimmt. Es gibt Zeiten, wo das Licht abnimmt, um fast ganz zu verschwinden. Wer 1945 in Europa war, weiß, was das bedeutet. Aber dann geht es wieder aufwärts. Seit der Gründung des Abraham-Geiger-Kollegs im Jahr 2000 kommt wieder mehr Licht in die Jüdischen Gemeinden in Deutschland.

Rabbiner waren und sind keine Propheten. Deshalb sei auch an dieser Stelle kein Versuch unternommen vorherzusagen, was es für das Judentum in Deutschland zukünftig bedeutet, dass hier nach der Schoa geborene Rabbiner und Kantoren nun schon in zweiter Generation tätig werden. Die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft ebenso wie jüdische Gemeinden müssen jeweils ihren Weg für ihre Gottgläubigkeit finden – das kann nur mit Seelsorgern und Lehrern gelingen, die Geschichte, Gegenwart und Mentalität ihrer Gemeinden nicht nur kennen, sondern Teil davon sind. Dass die jüdische Gemeinde in Dresden nun einen Rabbiner hat, der seine Kindheit keine 200 Kilometer entfernt verbracht hat, ist allerdings nur ein kleiner Vorteil, denn die Mehrheit der Gemeinde ist erst nach der Wende aus den ehemaligen GUS-Staaten zugewandert. Letztlich ist es aber doch die gleiche Aufgabe, wie sie sich seit 200 Jahren allen Rabbinern stellt. Sie müssen einen jüdischen Weg in einer sich ständig verändernden Welt zu Gott weiterentwickeln. Dabei wird man sich nicht allein auf das verlassen können, was im Zentrum jüdischen Gemeindelebens in den USA gedacht und (vor)gemacht wird, sondern eben unter den besonderen Bedingungen des Ortes, an dem man wirkt, tastend und gemeinsam mit der Gemeinde behutsam vorangehen.

Nur ca. drei Prozent der Juden weltweit sind altfromm, das heißt orthodox. Würde man das Judentum auf sie reduzieren, würde es kaum noch wahrgenommen werden. Seit der Transformation des Opfertiergottesdienstes nach der Zerstörung des Tempels vor 2000 Jahren, der von den Talmud-Rabbinern in einen Wortgottesdienst umgewandelt wurde, haben Rabbiner mit und in ihren Gemeinden das Judentum von Generation zu Generation modernisiert. Was im 19. Jahrhundert die Debatte um den Orgelgottesdienst war, ist heute die Frage nach der Integration bzw. Gleichstellung der Frauen. Jede Gemeinde muss dabei ihre eigenen Antworten finden. Die Jahrhunderte alte Tradition der von Rabbinern auf Anfragen zur Lösung gegebenen Responsen belegt, wie wichtig der Minhag Ha-Makom, die örtliche Religionspraxis, ist; große Herausforderungen auf dem Weg in eine jüdische Zukunft in Deutschland und Europa.

Was hat es nicht in den letzten 100 Jahren für Konzepte gegeben, die das Judentum modernisieren sollten! Zionismus, ein jüdischer Staat, der wie alle anderen sein sollte; oder säkulare Juden, will wohl heißen, Menschen jüdischer Herkunft, die sich mit der jüdischen Geschichte und Kultur identifizieren. Das hat auch seinen Platz im Leben und in der Zukunft des Judentums, und doch ist und bleibt der Kern des Ganzen der Glaube an den einen unsichtbaren Gott, der sich im Sinai offenbart hat und der seine Weisung gegeben hat, um die sich alles andere herumrankt: Der Schabbat als ewiges Zeichen, das jüdische Festjahr als immerwährender Weg und die Gebote als ethische Richtschnur. Das gilt es Woche für Woche mit Leben und vor allem mit Freude zu füllen. Alexander weiß, wie schön die Gottesdienste waren, die sein Großvater in Berlin mit Liebe und unter Einsatz seiner Persönlichkeit gestaltete, denn wir sind gerne zusammen in die Synagoge gegangen und haben mit Interesse verfolgt, wie auch kleines Brauchtum mit Sorgfalt gepflegt und entwickelt wurde. Wir waren Zeugen, wie der alte Oberkantor jungen Menschen ihren jüdischen Weg wies, Trauernde durch die Zitate aus der Psalmenliteratur tröstete oder Menschen, die ihren Weg verloren hatten, in der jüdischen Tradition Halt zu geben versuchte. So entschloss sich Alexander schon als 14-jähriger, das Vorbeten, das er von klein auf im Ohr hatte, zu erlernen, um in der Synagoge des Altenheims als ganz junger Mensch Judentum von Generation zu Generation zu empfangen und zugleich weiterzugeben.

Als ich 1964 Bar Mizwa wurde, zählte die stark überalterte jüdische Gemeinde in West-Berlin ca. 6.000 Seelen. Der damalige Berliner Gemeinderabbiner, Professor Cuno Lehrmann, hat mir auf den Weg gegeben, im Jahr 2000 sei ich einer statistischen Berechnung zufolge einer von ca. 800 Juden in Berlin. Tatsächlich waren es dann über 10.000 Mitglieder. Er verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass ich und meine Kinder durch ein jüdisch geprägtes Leben dazu beitragen mögen, dass es sich nicht bewahrheiten solle, Deutschland „judenrein“ zu machen.

Wer hätte Estrongo Nachama, dem jungen Juden aus einer sefardischen Traditionsgemeinde, der im März 1943 zu Pessach nach Auschwitz deportiert wurde und sich dort als „Sänger von Auschwitz“ die Essensrationen erbetteln konnte, die zum Überleben notwendig waren, vorhergesagt, er würde über fünf Jahrzehnte der jüdisch-religiöses Leben prägende Vorbeter einer liberalen Gemeinde in Berlin sein? Wer wäre vor genau 70 Jahren, Ende Februar 1943, als seine spätere Ehefrau Lilli in der Fabrik-Aktion verhaftet und deportiert werden sollte, darauf gekommen, dass ihr Sohn und Enkel einmal in Deutschland Rabbiner sein würden?

Das Leben einer Gemeinde, das Leben einer Familie, das Leben eines jeden einzelnen ist etwas anderes als das Fortschreiben der gerade vorzufindenden Rahmenbedingungen. Es bedarf des göttlichen Segens. Die Familie Nachama bittet Gott, die Fortführung der Erbschaft von Estrongo Nachama durch Alexander mit seinem Segen zu versehen: Möge sein Anteil bei der Fortentwicklung jüdisch-religiös geprägten Gemeindelebens im deutschsprachigen Raum dazu beitragen, dass die Kette der Tradition für ein modernes Judentum um ein weiteres Glied wächst.

Zu Rabbiner Prof. Dr. Andreas Nachama Geb. 1951 in Berlin, Rabbiner der Synagoge Hüttenweg in Berlin, Dekan des Master-Studienganges Holocaust-Studies am Touro College in Berlin/New York und geschäftsführender Direktor der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin.

Autor(en): Redaktion Medaon

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